Das Ende der neoliberalen Märchenstunde?

Mehr als 30 Jahre lang wurde gepredigt: „Mehr privat, weniger Staat“, nur durch Eigennutz und Konkurrenz erreichen wir das ökonomische Optimum, also muss der Sozialstaat verschlankt werden durch eine Sparpolitik! Seit Ausbruch der Corona-Pandemie gelten hingegen: Solidarität, Mitverantwortung, mehr Staat und „koste es, was es wolle!“Signalisiert dies bereits das Ende des Neoliberalismus?

Auf der Ebene der Rhetorik: Ja! Die Eliten in Medien und Politik spüren: Mit den neoliberalen Sprüchen kann man die vereinzelten, verbitterten und zukunftsängstlichen Menschen nicht erreichenEin Teil der dafür mitverantwortlichen Eliten nützt nun Corona als Gelegenheit, sich als RetterInnen der eigenen (Volks-)Gemeinschaft zu profilieren und gleichzeitig die Rhetorik der Rechtspopulisten (noch stärker) zu übernehmen. Ein anderer Teil der Eliten beginnt zu begreifen, wie sehr ihre eigene Politik Europa in eine Sackgasse führte. Innerhalb der Eliten werden sich daher zwei Richtungen herausbilden: Die erste versucht (zaghaft), an die Tradition des „Europäischen Sozialmodells“ anzuknüpfen, setzt sich also für mehr Integration und Solidarität in Europa ein. Die zweite Richtung verknüpft anti-neoliberale Rhetorik mit der Fortsetzung einer Politik im Interesse der Vermögenden: War dies zuvor durch neoliberale Konzepte explizit legitimiert worden, wird nun davon abgelenkt, indem „das Ausländische“ als Bedrohung des eigenen Sozialsystems dargestellt wird, sei es durch Finanzhilfe für andere EU-Länder in Not oder durch „Einwanderer in unser Sozialsystem“. Die erste („integrative“) Richtung wird von christ- und sozialdemokratischen PolitikerInnen vertreten, die den Kontakt zu ihren Grundwerten noch nicht gänzlich verloren haben. Allerdings fehlt ihnen ein gesellschaftspolitisches Konzept, schließlich sind die (früheren) Großparteien selbst mit dem „Mainstream“ mitgeschwommen. Indem sie nun die Herausforderungen des Klimawandels stärker betonen („European Green Deal“), können sie den Gesichtsverlust“ der Abkehr von ihren früheren Dogmen in Grenzen halten. Die zweite („nationalpopulistische“) Richtung leitet ihre Stärke aus dem Ziel ab die Interessen der Vermögenden zu vertreten, indem sie diese entweder als Interessen der Allgemeinheit erscheinen lassen (Neoliberalismus) oder der Volksgemeinschaft (Nationalpopulismus). Nicht auf inhaltliche Konzepte kommt es an, sondern auf Interessenlegitimation und Marketing. Spätestens wenn sich die Frage stellt, wer für das „koste es, was es wolle“ zu zahlen hat, und wie dennoch die Systemkrise Europas überwunden werden kann, wird sich zeigen, wer tatsächlich bereit ist, mit der neoliberalen Politik auch inhaltlich zu brechen. 

Die NationalpopulistInnen sicher nicht. Sie werden (weiterhin) nennenswerte Beiträge der Vermögenden ablehnen, egal ob durch Vermögens- und Erbschaftssteuern oder eine Finanztransaktionssteuer. Sie werden stattdessen massive Einsparungen im Sozialbereich als zwar bedauerliche, aber unverzichtbare Maßnahmen zur „Sicherung unseres Sozialsystems“ vorschlagen. Die sich vorsichtig wieder am „Europäischen Sozialmodell“ orientierenden Eliten werden hingegen radikal umdenken müssen, wenn sie den in einer Dauerkrise wieder erstarkenden Populismus erfolgreich bekämpfen wollen. Voraussetzung ist eine konkrete Diagnose, in welchen Schritten die neoliberale „Navigationskarte“ Europa seit den 1970er Jahren immer tiefer in die Krise führte. Dabei muss insbesondere erklärt werden, warum auch die christ- und sozialdemokratischen Parteien das neoliberale Denken übernahmen und so ihre Grundwerte und ihre Identität verloren. Auf Basis einer solchen Diagnose muss ein gesellschaftspolitisches Programm als „Therapie“ entwickelt werden, das die bedrückendsten Probleme anpackt - von Arbeitslosigkeit, atypischer Beschäftigung, prekärem Kleinunternehmertum, Segregation der Kinder im Bildungswesen, Wohnungsnot, Finanzinstabilität und der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen durch die Erderwärmung bis zu den sozial-psychologischen Folgen dieser Probleme in Gestalt von Verbitterung, Zukunftsangst und Wut. Durch Umsetzung eines solchen Programms würde die Realwirtschaft nach 50 Jahren wieder Vorrang bekommen vor der „Finanzalchemie“ und so eine schrittweise Eindämmung von Arbeitslosigkeit, Prekariat, sowie generell der sozialen Ungleichheit und der Umweltzerstörung möglich machen. Beispielhaft seien einige (Groß-)Projekte erwähnt: 

  • Schaffung eines Europäischen Währungsfonds, der mit „Rückendeckung“ der EZB den jahrzehntelangen Transformationsprozess der europäischen Wirtschaft eine „Kreislaufwirtschaft“ finanziert (ohne die Schulden der nationalen Staaten zu erhöhen). 

  • Übergang vom Fließhandel auf allen Finanzplätzen (in Milli- und Mikrosekunden, getrieben von Spekulationsalgorithmen) zu elektronischen Auktionen, etwa alle 3 Stunden. Dies würde Wechselkurse, Rohstoffpreise, Aktienkurse und Zinssätze stabilisieren. 

  • Energetische Erneuerung des gesamten Gebäudebestands in der EU durch den integrierten Einsatz von Wärmedämmung, Photovoltaik, Stromspeicher, Wärmepumpen und den Ausbau lokaler Stromnetze. 

  • Schaffung eines transeuropäischen Netzes für Hochgeschwindigkeitszüge der neuen Generation (sie fahren im Testbetrieb ca. 500 km/h) als Voraussetzung für eine radikale Einschränkung des Flugverkehrs. 

Mehr zur Diagnose, wie der Neoliberalismus durchgesetzt wurde und warum er sich so lange gehalten hat, und zur „Therapie“, wie er überwunden werden könnte, findet sich in meinem Buch „Der Weg zur Prosperität“.   

 

 Mag. Dr. Stephan Schulmeister ist Wirtschaftsforscher und Universitätslektor. Er übt in seinen zahlreichen Publikationen unter anderem Kritik am Neoliberalismus und fordert Alternativen wie etwa einen europäischen „New Deal“

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